Gesunde Wut

Der Umgang mit eigenen Wutimpulsen ist für viele von uns eine Herausforderung. Oft fühlen wir uns ohnmächtig, weil wir uns nicht kontrollieren können, leiden unter den Wutausbrüchen unseres Partners oder haben eine feste Meinung über Wut im Allgemeinen.
Es gibt Paare, die einen handfesten Streit mit fliegenden Gegenständen und lautem Anschreien brauchen, um sich anschließend im Bett zu versöhnen. Andere vermeiden Wut und bewegen sich vorsichtig wie auf rohen Eiern umeinander herum. Am häufigsten ist jedoch, dass Partner unterschiedlich mit Wut umzugehen. Das kann eine Quelle für Konflikte sein.

Ich stelle euch hier ein Modell vor, das gesunde Wut beschreibt, und anschließend erläutere ich, was aus meiner Sicht keine gesunde Wut ist.

  1. Gesunde Wut hat die Funktion, uns zum Handeln zu bewegen. Das kann die winzige Wut sein, die uns antreibt, einen heruntergefallenen Bleistift aufzuheben, oder das dringende Anschreien eines Kindes, das auf die Straße läuft.
  2. Gesunde Wut richtet sich immer auf etwas, dass zu 100% in meiner eigenen Handlungskompetenz liegt.
  3. Gesunde Wut zeigt sich immer in der passenden Intensität – nie zu stark und nie zu schwach.
  4. Gesunde Wut entspringt einer inneren Kraft und Stärke und bringt uns niemals aus unserer inneren Ruhe.
  5. Gesunde Wut können wir bewusst aktivieren. Wenn es schnell gehen muss, wird sie automatisch ausgelöst. Für andere scheint sie unter unserer vollständigen Kontrolle zu stehen.
  6. Gesunde Wut zeigt sich offen und ist niemals verdeckt.
  7. Gesunde Wut kommt aus unserer inneren Wahrheit.

Keine gesunde Wut ist:

  1. Reaktivität: Dabei rastest du aus und reagierst aus alten Kindheitsmustern, aus Empörung, innerer Not oder fast zwanghaft. Du rechtfertigst deine Wut durch Projektion auf die andere Person.
  2. Empörung wird oft mit Wut verwechselt und ist auf etwas gerichtet, das nicht zu 100 % in meiner eigenen Handlungskompetenz liegt.
  3. Verdeckte Wut: Sie äußert sich in doppelten Botschaften wie Ironie oder Zynismus.
  4.  Ambivalente, gebremste Wut: Aufgrund negativer Erfahrungen mit destruktiven Formen von Wut haben wir oft ein grundsätzliches Urteil über sie entwickelt. Dadurch ist es fast unmöglich, Zugang zur eigenen Wut zu finden.
  5. Wut, die gerechtfertigt werden muss: Jede Rechtfertigung, Erklärung oder Einordnung dient nur dazu zu beweisen, dass du im Recht und überlegen bist. Bei gesunder Wut ist das vollkommen unnötig, da sie sich unmittelbar als angemessen erweist.

Umgang mit Wut lernen – erste Schritte:

  1. Stolperstellen: Lies den Text noch mal und achte besonders auf die Textstellen, bei denen du dich gerechtfertigt fühlst oder starken Widerstand spürt. Hier liegt dein persönliches Wachstumspotenzial.
  2. Bewusste Aktivierung: Suche etwas in deiner Umgebung, das du bisher neutral oder gar nicht beachtet hast (z. B. etwas auf dem Fußboden). Versuche nun bewusst, Wut darauf zu entwickeln und dich immer mehr hineinzusteigern. Stelle dir vor, wie du es mit aller Gewalt und heftigen Bewegungen wegräumst oder die verantwortliche Person in der Luft zerreißen könntest.
  3. Beobachte: Werde langsam und achte im Einzelnen genau auf deine Wutreaktion. Nimm wahr, wie zuerst eine kleine Wut in dir aufsteigt. Vielleicht wird dir klar, dass du zuvor unbewusst eine Bewertung der Situation vorgenommen hast (“Das soll nicht sein”). Spüre wie dein Sympathikus aktiviert wird (Energie steigt nach oben, vielleicht wird dein Kopf rot). Fühle vollständig deine Wut und den Impuls zu handeln. Und anschließend bemerke, wie du die Situation, dein Gefühl und dein Handeln beurteilst und rational rechtfertigst.
  4. Wut-Tagebuch: Schreibe einige Tage lang ein Wut-Tagebuch. Beschreibe darin die scheinbaren Auslöser, dein Gefühl, deine Rechtfertigungsversuche und wie du die Situation bereinigst (oder nicht).
  5. Gespräch: Suche dir eine neutrale Person (nicht deinen Partner/deine Partnerin). Beschreibe deine Wut in einer aktuellen Situation oder aus deiner Kindheit. Berühre in Stille die alte Wut, ohne etwas damit zu tun. Lass sie einfach 5-10 Minuten da sein.

Die gesunde Wut ist eine Gefühlskraft, die ich auch im Beitrag Was ist Fühlen von anderen Phänomen abgrenze.