Was ist Fühlen?

Wie fühlst du dich? Die Frage nach deinem Befinden ist dir sicherlich geläufig, aber hast du dich schon einmal gefragt, was Gefühle eigentlich sind? Die Frage mag dir eigenartig erscheinen. Oft verwenden wir den Begriff “Gefühl” für alles, was uns nicht ganz klar ist. Dabei ist es für unser Wohlbefinden äußerst wichtig, unsere Gefühle kennenzulernen. Ich kann dir versichern: Im Verlauf dieser Lektüre wirst du eine Menge über deine Gefühle erfahren. Hierbei möchte ich dich gerne auf eine gemeinsame Forschungsreise mitnehmen. Die Anregungen, die ich dir präsentiere, beanspruchen keine allgemein gültige Wahrheit, sondern sind vielmehr eine Einladung, selbst zu untersuchen, was für dich persönlich zutrifft.

Über Gefühle zu reden und zu schreiben ist nicht dasselbe wie fühlen. Worte sind Worte und Gefühle sind Gefühle. Wenn ich also hier Worte benutze, sind sie wie ein Rezept oder eine Speisekarte: sie schmecken nicht und machen nicht satt. Gibt es in deinem Leben Situationen, in denen du eher über Gefühle redest, als Gefühle zu fühlen? Wann hilft es, über die Gefühle zu sprechen und wann entfernt es dich von der unmittelbaren Erfahrung des Fühlens?

Synonyme für Gefühl sind für mich Affekt oder Emotion. Dabei lässt sich nur das Wort Gefühl sinnvoll als Verb – fühlen –  benutzen und ich werde es deshalb verwenden. Der Nachteil ist, dass wir dieses Wort häufig in einer Art verwenden, die zwar mit einem Affekt oder einer Emotion verbunden sein kann, aber etwas anderes beschreibt. Vielleicht ist das die Ursache für die vielen Verwirrungen und Missverständnisse zum Thema.

Wir denken oft im entweder – oder.  Wenn ich im Folgenden die verschiedenen Aspekte von Gefühlen mit dir zusammen erforsche, heißt es nicht, dass sie im wahren Leben voneinander getrennt sind. Ich verspreche dir: Durch die Forschungsreise wirst du beginnen, differenzierter zu fühlen.

Genug der Vorbemerkungen, begeben wir uns auf die Reise. 

Ich habe das Gefühl, dass du…, Das fühlt sich für mich falsch an. Diese und ähnliche Wendungen beschreiben Gedanken, in der Regel Interpretationen und Projektionen. Ohne Sinnverlust können wir in diesem Fall das Wort fühlen durch denken ersetzen. Probiere mal, welche typischen Sätze du in dieser Kategorie verwendest. Dabei kommst du vielleicht auch in Kontakt mit dem jeweiligen, wesentlichen Gefühl, das mit solchen Sätzen verbunden ist. Wenn du einen Gedanken äußerst, könnte dein Gesprächspartner diesen Infragestellen. Sprichst du dann lieber über dein Gefühl, damit du es nicht anschauen und erklären musst?

Ich koche aus dem Gefühl und nicht nach dem Rezept. Er hat ein gutes Ballgefühl. Ich kann Menschen gut aus meinem Bauchgefühl heraus beurteilen. Diese und ähnliche Wendungen beschreiben unsere Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, ohne dass uns die zu Grunde liegenden Prozesse in unserem Unterbewusstsein bekannt sind. Andere Worte dafür sind Intuition oder schnelles Denken. Diese Fähigkeiten sind für unser Überleben essenziell. Niemals könnten wir auch nur einen Schritt tun, wenn wir uns bewusst für die Aktivierung von jedem einzelnen Muskel entscheiden müssten. Nicht immer sind sie uns jedoch nützlich. Beispiele: Wir greifen zu dem überteuerten Produkt, weil uns die Werbung vertraut ist. Wir bewerten Menschen schnell nach ihrem Aussehen, noch bevor wir mit ihnen in Kontakt treten. Wir denken und handeln so, wie wir schon immer gehandelt haben. Uns unterlaufen die typischen Denkfehler. Wir haben Angst vor Veränderung, weil wir dann nicht nach unserer Intuition handeln können.

Wenn wir merken, dass derartige Reaktionen unserem Reifen entgegenstehen, lohnt es sich, den unbewussten Bewertungsschritt zwischen Aktivierung und Reaktion genauer anzuschauen

Oft scheint unser Gefühl unpassend oder viel zu stark im Verhältnis zu der aktuellen Situation. Die Gefühle drehen sich zusammen mit den Gedanken im Kreis. Es ist wie an einem Karussell: da kommt schon wieder das rosa Einhorn vorbei. Ein wildes Ringelreihen aus scheinbar frischen Gedanken und alten Gefühlen. Wir frieren ein oder gehen ins Drama. Es gibt nur eine vage Erinnerung daran, dass wir uns als Kind so ähnlich gefühlt haben. Dies nenne ich Gefühlsgewohnheiten. Es gibt zwar einen kleinen Anlass, der sie auslöst. Bei nüchterner Betrachtung kann dieser Anlass aber nicht die Intensität des Gefühls erklären. Was tun? Hier gilt es, einen guten Kontakt mit der Gegenwart und sich selbst herzustellen und behutsam in Verbindung mit unserem jüngeren Ich zu treten. Besonders bewährt hat sich die Gegenwart einer präsenten Person, die nicht reagiert. In diesem Gefäß darf sich das alte Gefühl zeigen und schrittweise auflösen. Scheue dich nicht ggf. um professionelle Hilfe zu bitten. Mit zunehmender Übung im spürenden Gewahrsein kannst du lernen dir selbst beizustehen.

Das geht ja gar nicht! Wie konnte er nur! Das ist doch selbstverständlich! Das sind so schlechte Menschen. Diese und ähnliche Sätze sind uns vertraut, auch wenn wir sie vielleicht nicht laut aussprechen. Unser inneres, oft unbewusstes Bild einer besseren Welt wird in der Realität häufig nicht erfüllt.  Schön, wenn wir uns dann mit anderen zusammen für eine bessere Welt engagieren und die uns möglichen Schritte gehen. Leider stecken wir jedoch eher in einer tatenlosen, d.h. fruchtlosen Empörung fest, verbunden mit einem Gefühl der Hilflosigkeit. Am Anfang steht die unbewusste Selbstüberschätzung, dass die Welt eigentlich nach meinen Vorstellungen gestaltet sein sollte. Und alle anderen Menschen sollten selbstverständlich meinem Maßstab folgen. Im Unterschied zu meinem persönlichen, aktuellen Bedürfnis habe ich hier eine Überzeugung, ein Urteil, eine feste Meinung. Diese Sorte Gefühle sind leider der ultimative Weg, um unglücklich und allein zu sein. 

So sehr unterscheiden wir uns gar nicht von unseren tierischen Verwandten. Auch bei uns können wir Genetische Programmierungen beobachten. Erkennbar sind sie daran, dass wir einrasten oder ausrasten, in hohem Maße ohne unser Zutun. Beispiele sind Verliebtheit, Wut und Aggressionen, wenn wir uns überflutet fühlen, Enge, wenn wir uns um das nächste Essen sorgen oder fürchten, verlassen zu werden. Sie mischen sich mit den anderen Sorten von Gefühlen und sind dann nicht immer klar zu erkennen. Im Kontext von Liebesbeziehungen interessieren uns die genetischen Programmierungen zur Partnerwahl, zum Verlieben und zur Eifersucht.

Ich fühle mich angespannt, ich hab so ein flaues Gefühl im Magen, ich fühle mich elend, meine Stirn kräuselt sich. Mit solchen Sätzen beschreiben wir unsere Körperempfindungen. Keine Frage, manchmal sind sie eine gute Spur, um zu unseren Emotionen vorzudringen, oft sind sie aber einfach nur Körperempfindungen. Vielleicht ist uns kalt, vielleicht haben wir zu viel gegessen, ich sitze verspannt oder ich denke zu angestrengt nach.

Die Gefühlskräfte sehe ich als grundlegende Elemente unseres Gefühlslebens. Es handelt sich um Freude, Trauer, Wut, Scham und Angst. Ihnen geht eine unbewusste Bewertung voraus, und sie sind eine wichtige Kraft, uns durch das Leben zu navigieren.
Bei genauer Erforschung wird deutlich, dass sie oft in Kombination auftreten und uns dann verwirren können. Ein Beispiel hierfür ist die Hilflosigkeit, welche eine Mischung aus Trauer und Wut darstellt. In solchen Momenten wünschen wir uns, dass die Situation anders wäre, als sie ist. Gleichzeitig sind wir jedoch unsicher, ob wir aktiv handeln (wofür die Wutkraft steht) oder eher in die Akzeptanz gehen. Letztere ermöglicht es uns die Realität anzunehmen, wie sie ist (wofür die Trauerkraft da ist). Der Umgang mit diesen emotionalen Kräften bildet den Schlüssel zur emotionalen Autonomie und ist eine Fertigkeit, die erlernt werden kann.

Im spürenden Gewahrsein geht es um unsere mitfühlende Präsenz mit unseren Körperempfindungen und Gefühlsbewegungen im gegenwärtigen Augenblick. Wir distanzieren uns dabei von unseren (Selbst-)Erzählungen und Gefühlsgewohnheiten, wenden uns unserem Innenleben jetzt freundlich und direkt zu. Wir begegnen uns weich, offen und berührbar. Wir erkunden neugierig dieses Innenleben und erfahren dabei, dass dies ohne Drama möglich ist. Diese emotionale Autonomie entfaltet schrittweise eine heilende Kraft.

Dankbarkeit, Hingabe, Vertrauen, Annahme, Verbundenheit, Mitgefühl, Achtsamkeit und viele Formen der Liebe sind komplexe Fähigkeiten. Sie unterscheiden sich von den Gefühlskräften dadurch, dass wir sie im Laufe des Lebens entwickeln können – so wie andere Fähigkeiten auch. Dafür braucht es Ausrichtung, Anleitung und Übung. Demgegenüber sind die Gefühlskräfte wahrscheinlich genetisch angelegt und wir teilen sie mit vielen anderen Lebewesen. 

Manchmal benutzen wir das Wort Fühlen auch für Wahrnehmen. Nicht im Sinne der Sinneswahrnehmungen oder Körperempfindungen (siehe oben), sondern im Sinne von etwas in sich zu halten und entspannt zu beobachten. Dann ergibt sich eine neue Relation, ein Impuls, eine Bewegung daraus. Er setzt voraus, aus einem Raum der Stille zu lauschen. Achtung! Sobald ich „etwas“ wahrnehme, erzähl ich (mir) nur eine Geschichte über meine emotionale, intuitive oder spirituelle Fantasie. Es hat mehr von einfach Wach-Sein.

So, wie ich das Herz betrachte, erscheint es mir als ein Gefäß für sämtliche Gefühle, Gedanken und Zustände. Es verbindet mich mit dem weiten Raum des transpersonalen Gewahrseins. In Momenten, in denen ich mich meinen Gefühlen, Gedanken und Zuständen zuwende, aber mich nicht mit ihnen identifiziere, sind das Herz und ich eins.