Ich kenne kaum ein größeres Hindernis für Intimität als Selbstgerechtigkeit. Daher lohnt sich ein genauer Blick auf Ursachen, Muster und Wirkungen.
Wer sich selbst im Recht sieht, fühlt sich zufrieden, bestätigt, sicher, überlegen, unangreifbar u.ä.
Wer sich selbst im Unrecht sieht, fühlt sich unzufrieden, unsicher, verletzlich, unterlegen, hilflos, ausgeliefert u.ä.
Kein Wunder, dass wir gerne Recht haben wollen. Es gibt Paare, die schon über Klitze-Kleinigkeiten in erbitterten Streit geraten, um auf die “ich hab Recht”-Seite zu gelangen. Wir wechseln als fortgeschrittene Hobby-Psychologen vom Inhalt auf die Metaebene “Das war jetzt aber unfair argumentiert” oder “Du behandlst mich jetzt so wie meine Mutter” um dort weiterzukämpfen u.s.w. Das Arsenal an Streit-Mustern ist viel zu groß für diese Internetseite.
(1) “Ich habe Recht” bedeutet, nur das wahrzunehmen, was mich darin bestätigt. Den Rest der Welt blende ich vollkommen aus. Ich argumentiere eher defensiv und wenn gar nichts mehr hilft, ziehe ich mich in mich zurück – zu dem Platz von unverbundener Selbstgerechtigkeit und “keiner versteht mich – das macht aber nichts”.
(2) “Ich habe Recht und will dass du es anerkennst” ist mit noch mehr Energie verbunden, da der Wunsch nach Anerkennung befriedigt werden “muss”. Ich suche nach den Schwächen in der Argumentation meines Gegners und versuche diese bloßzustellen damit er/sie aufgibt und meinen Sieg anerkennt. Dabei können bei steigender Intensität die besonders empfindlichen Stellen “unter der Gürtellinie” zum Ziel werden. Ich argumentiere eher offensiv und neige schließlich zum Abbruch durch ein “Ich hab gewonnen” oder im besten Fall durch ein gönnerhaftes “Wir lassen das mal jetzt so stehen”.
Von Paul Lowe habe ich gelernt: Streit entsteht, wenn beide Partner den anderen ändern wollen.
Jenseits von Richtig und Falsch, da gibt es einen Ort, dort treffen wir uns. Rumi
Fazit: Ich allein habe es in der Hand, ob wir streiten oder uns glücklich lieben. Sobald ich bereit bin, die eingangs beschriebenen Unrecht-Emotionen zu durchfühlen, statt sie zu bekämpfen, betrete ich diesen Ort, an dem wir uns begegnen können.
Um gleich ein häufiges Misverständnis auszuräumen: Abschied von der Selbstgerechtigkeit bedeutet nicht auf die Erfüllung aller meiner Bedürfnisse (siehe Gewaltfreie Kommunikation) zu verzichten – im Gegenteil. Sobald ich mein Weltbild nicht mehr durch Streit so dramatisch verenge, steht mir wieder die ganze Welt offen: Er kann mir nicht so zuhören, wie ich es brauche? Dann spreche ich mit meinen Freundinnen oder coache ihn dabei (s. Hallo Tarzan). Sie mag sich nicht für mehr Sex öffnen? Dann lerne ich wie ich ihr Vertrauen und ihre Hingabe gewinne (s. David Deida).
Gewaltfrei heißt nicht nur Verzicht auf Gewalt und Widerstand, heißt auch nicht etwa die andere Wange hinhalten. Gewaltfrei ist eine viel schwierigere Aufgabe – nämlich Verständnis und Einfühlung in die Ängste, die Unwissenheit, Hilflosigkeit und Unsicherheit der Menschen und Faktoren, die gewaltvolles Handeln hervorrufen. Gandhi